Schrei nach Liebe Wie Kinder zu Systemsprengern werden

Montag, den 17. Mai um 22.10 Uhr, ZDF

Autorin: Liz Wieskerstrauch
Kamera: Reiner Bauer
Schnitt: Steffen Meibaum
Redaktion (ZDF): Nina Behlendorf
Produzent: Robert Wortmann (SPIEGEL TV)

Kinder, die um sich schlagen, Gegenstände zertrümmern, Erzieherinnen und Betreuer beleidigen, anspucken oder sogar körperlich angreifen und mit ihren Gewaltattacken andere Kinder in große Gefahr bringen, sind in Pflegefamilien und vielen Kinderheimen und Wohngruppen auf Dauer nicht zu tragen. Deshalb werden sie abgeschoben – in die nächste Wohngruppe, das nächste Heim, oder sie werden in die Kinder- und Jugendpsychiatrie gebracht, bis – oft nach langem Suchen erst – eine neue Unterkunft für sie gefunden wird, auf dass der Reigen von vorne losgeht. Die Betreuer sind völlig überfordert, die Jugendämter hilflos. Solche Kinder sprengen das Jugendhilfesystem. Experten schätzen, dass in Deutschland 8.000 bis 13.000 Kinder so auffällig sind, dass sie häufig die Einrichtungen wechseln müssen.

Luca ist 9 Jahre alt. Schon als Säugling wurde er vom Jugendamt aus dem Elternhaus genommen – der Vater hatte ihn mehrfach heftig geschlagen. Dann wurde er in einer Notunterkunft für Kleinstkinder untergebracht, bis das Jugendamt meinte, eine Rückführung zu den Eltern wäre möglich. Und wieder war Luca schwerster Gewalt ausgesetzt – Spuren schlimmer Schläge an Rücken und Gesäß. Und wieder musste ein neuer Ort für ihn gefunden werden. Diesmal eine Pflegefamilie. Die allerdings war bald überfordert, denn Luca zeigte immer öfter schwerste Ausraster. Er richtete seine Aggressionen auch gegen deren leibliche Kinder. Also musste Luca wieder weg. Er kam in ein Kinderheim. Dort musste er sich gegen die anderen behaupten, trat und schlug um sich, wie es Zuhause für ihn üblich war. Mehrfach kam er in die Kinder- und Jugendpsychiatrie.

„An sich ist er ein lieber, netter, schlauer Junge, der halt nicht anders kann als auszurasten.“

„Enthemmte Kinder mit schweren Bindungsstörungen wie Luca haben leider eine sehr schlechte Prognose“ bedauert Frau Dr. Angela Nöldge, die Luca in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Haldensleben behandelt. „In der Therapie können wir immer nur an den Symptomen arbeiten, die Impulsivität runter schieben, Impulskontrolle einüben, Empathie den anderen gegenüber trainieren und dazu aggressionshemmende Medikamente verschreiben.“

Auf Empfehlung der Ärztin wurde Luca in eine etwas kleinere Wohngruppe verlegt. Auch hier re-inszeniert Luca seine Negativerfahrungen und verhält sich äußerst aggressiv. „An sich ist er ein lieber, netter, schlauer Junge, der halt nicht anders kann als auszurasten“, sagt Christoph Tarrach, der seit kurzem Luca als Einzelbetreuer zugestellt wurde.

Für die Betreuer ist es oft schwer, die andauernden Attacken – schlimme Beleidigungen und böswillige Angriffe – auszuhalten. Oft müssen sie Luca mit Gewalt auf dem Boden festhalten, um die anderen Kinder und sich selbst zu schützen – so lange, bis er endlich nachgibt. Nicht alle können nachvollziehen, dass es sich nach dieser Vorgeschichte und den vielen Wechseln um ein schwer traumatisiertes Kind handelt, das in jedem neuen Lebensumfeld austesten muss, wie weit es gehen kann. Ob die Betreuer ihn wieder rauswerfen. Oder ob es vielleicht doch jemanden gibt, der ihn aushält?

„Das ist eine Prüfung auf Belastbarkeit, geradezu ein Angebot, eine Beziehung einzugehen, was aufgrund der hohen Aggressivität oft nicht verstanden wird“, erklärt der Kinderpsychologe und Forscher Dr. Stefan Rücker. Man könnte auch sagen: Es ist ein Hilfeschrei. Ein Schrei nach Liebe.

„Ich habe mich ganz doll ungeliebt gefühlt, weil ich dachte, niemand möchte mich haben und niemand könnte mich aushalten“, erzählt Karla, die jetzt 20 Jahre alt ist und ihr Leben selbständig meistert. Auch sie wurde sehr früh ihren Eltern entzogen und hat drei Pflegefamilien und acht Wohngruppen durchlaufen. In der letzten hatte sie Glück. Das Konzept dort lässt nur sehr kleine Gruppengrößen bis maximal vier Kinder zu und besteht auf ausreichend Personal bis hin zu Einzelbetreuung, wenn es nötig ist.

„Unser oberstes Prinzip ist immer zu sagen, wir müssen den Kindern die notwendige Sicherheit geben“, erklärt Menno Baumann, Professor für Intensivpädagogik. „Also Kinder, die ausrasten, fühlen sich nicht sicher. Und wir müssen ihnen die Erfahrung vermitteln, du wirst von uns nicht überwältigt. Wir bleiben auch in Deinen Krisen bei dir und werfen dich nicht raus.“

Die Dokumentation von Liz Wieskerstrauch zeigt auf, dass letztlich nicht die Kinder das System sprengen, sondern weil das überforderte Hilfesystem für diese Kindern nicht frühzeitig einen adäquaten Platz findet, das ihren Bedürfnissen entspricht, werden diese Kinder zu Systemsprengern. Ein frühzeitiges Kontrollsystem und bundesweit kooperierende Jugendämter könnten solche unliebsamen Entwicklungen verhindern.